Israels Großoffensive in Gaza hat begonnen, um das strategische Ziel von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu erreichen: die Zerstörung der islamistischen Terrororganisation Hamas und ihrer Netzwerke. Die Militäroperation birgt viele Risiken. Die Hamas hat nicht nur brutale Gewalt gegen Israel angewendet, sondern auch die Zivilbevölkerung im Gazastreifen als menschliche Schutzschilde eingesetzt. Die Hamas spekuliert auf eine hohe Zahl von Todesopfern und strebt eine Umkehr von Tätern und Opfern an, um Israel als den eigentlichen „Aggressor“ darzustellen.
Der digitale Flächenbrand nach der Raketenexplosion am Al-Ahli-Hospital in Gaza, der Israels Schuld sofort in palästinensischen und arabischen Medien zugeschrieben wurde, zeigt, dass das Internet zu einem Schlachtfeld in diesem Krieg geworden ist. Je mehr Bilder von palästinensischen Opfern verbreitet werden, desto größer wird der Druck auf die israelische Regierung.
Weitere Risikofaktoren für Netanjahu sind der Kampf gegen die Hamas-Kämpfer in den unterirdischen Tunneln im Gazastreifen und der bevorstehende Häuserkampf, bei dem es blutig zugehen könnte. Je mehr israelische Soldaten fallen, desto stärker gerät Netanjahu innenpolitisch unter Druck. Die Bodenoffensive bringt auch das Leben der Geiseln in Gefahr, und Netanjahu kämpft mit der Invasion um sein eigenes politisches Überleben. Das absolute Versagen des Militärs beim „schwarzen Schabbat“ am 7. Oktober hat das Vertrauen in den Staat und seine Fähigkeit, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, erschüttert.
Netanjahu versucht nun, sich auf durchsichtige Weise von der Verantwortung reinzuwaschen. Zunächst kritisierte er die israelischen Sicherheitsbehörden in einem Tweet, dass sie ihn nicht vor den „kriegerischen Absichten der Hamas“ gewarnt hätten. Wenige Stunden später löschte er den Post und entschuldigte sich. Dieses Schwarze-Peter-Spiel zeugt nicht von politischer Führungskraft. Der Chef des Militärgeheimdienstes und der Verteidigungsminister haben immerhin Verantwortung für das Fiasko übernommen.
Netanjahu versucht, seine Schwächen mit martialischer Rhetorik zu kaschieren. Die Bezeichnung der Hamas als „die neuen Nazis“ oder die Benennung der aktuellen Militäroperation als „zweiter Unabhängigkeitskrieg“ fallen in diese Kategorie.
Diese Rhetorik löst jedoch nicht die Probleme. Solange der schnelle Ausbau der jüdischen Siedlungen im Westjordanland weitergeht, wird die Region unruhig und instabil bleiben. Die Unterstützung für die Hamas und andere islamistische Terrororganisationen wird abnehmen, wenn der Siedlungsbau gestoppt wird und den Palästinensern ein lebensfähiger Staat ermöglicht wird. Leider hat Netanjahu diese Option mit der Wahl seiner ultra-orthodoxen Koalitionspartner verspielt.
Es ist unwahrscheinlich, dass die Bodenoffensive den Kriegspremier politisch retten wird. Israels Ministerpräsidentin Golda Meir wurde nach dem verheerenden Überraschungsangriff im Jom-Kippur-Krieg 1973 heftig kritisiert und trat ein Jahr später zurück. Es ist gut möglich, dass Netanjahu nach der Aufarbeitung des 7. Oktobers das gleiche Schicksal ereilt.
Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Telefon: 030/887277 – 878
bmcvd@morgenpost.de
Original-Content von: BERLINER MORGENPOST, übermittelt durch news aktuell