Einblicke in die Psyche der NS-Verbrecher

Im Jahr 1945 stellte sich die grundlegende Frage: Was ging in den Köpfen der Hauptverantwortlichen des Nationalsozialismus vor? Gustave M. Gilbert, ein Psychologe, versuchte beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, diese Frage zu ergründen. Als psychologischer Berater und Dolmetscher hatte er Zugang zu den Angeklagten und beobachtete ihre Interaktionen während des Verfahrens. Gilbert arbeitete über zehn Monate lang eng mit führenden Mitgliedern des NS-Regimes zusammen, darunter Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop. Sein Ziel war es, den inneren psychologischen Mechanismen dieser Täter auf die Spur zu kommen und ihre Gedankenwelten zu verstehen.

Während des Prozesses berichtete ihm Göring und andere Angeklagte von ihren Überzeugungen und rechtfertigten ihr Handeln. Dank seiner Deutschkenntnisse hatte Gilbert die Möglichkeit, in direkten Austausch mit den Verbrechern zu treten. Dies sicherte ihm nicht nur einen Zugang zu unverfälschten Informationen, sondern bot auch einen einmaligen Blick hinter die Kulissen der nationalsozialistischen Ideologie. Historiker betonen, dass Gilbert durch seine Gespräche mit den Angeklagten ein wertvolles Bild von deren psychologischen Zuständen entwerfen konnte.

Der geeignete Mann am geeigneten Ort

Gustave M. Gilbert wurde 1911 in New York geboren und wuchs in einer Familie österreichisch-jüdischer Einwanderer auf. Nach seinem Studium der Germanistik und Psychologie an der Columbia University promovierte er 1939. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er für den US-Geheimdienst in Europa und wurde schließlich für den Nürnberger Prozess als Dolmetscher und Gerichtspsychologe ausgewählt. Seine Qualifikationen und Sprachkenntnisse machten ihn zur idealen Besetzung für diese anspruchsvolle Aufgabe. Historiker haben hervorgehoben, dass Gilbert nicht nur einer der wenigen war, der ungefilterten Zugang zu den angeklagten Männern hatte, sondern dass seine Expertise in Psychologie und seine mehrsprachigen Fähigkeiten einen entscheidenden Vorteil darstellten.

Die Verantwortung, die Gilbert während des Prozesses übernahm, war nicht nur professioneller, sondern auch ethischer Natur. Durch seine Gespräche konnte er tiefer in die Psychopathologie der Täter eindringen und deren Gedankengänge nachvollziehen. Historiker wie Alexander Korb betonen, dass Gilbert durch seine fundierte Ausbildung und sein junges, dynamisches Auftreten zur Schlüsselfigur im Prozess wurde.

Erstaunlich ehrlicher Austausch

Um seinen Gesprächspartnern ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, verzichtete Gilbert auf das Mitschreiben während der Gespräche und erstellte erst nach den Gesprächen Gedächtnisprotokolle. Diese Herangehensweise förderte eine offene und zwanglose Kommunikation. In seinen „Nürnberger Tagebuch“ dokumentierte Gilbert, wie die meisten Angeklagten die vorgegebene Maske ablegten und oft ehrlich über ihre Überzeugungen und ihr Handeln berichteten.

Die Isolation und die strengen Bedingungen in den Gefängnissen trugen zu dieser Ehrlichkeit bei. Historiker argumentieren, dass die Möglichkeit zur Kommunikation für die Angeklagten sehr geschätzt wurde, da sie in ihren kleinen, kalten Zellen kaum Kontakt zu anderen hatten. Dies führte dazu, dass sie bereitwillig Gedanken und Emotionen mit Gilbert teilten. Doch die Gespräche waren nicht frei von Risiko. Historiker wie Alexander Korb weisen darauf hin, dass Gilbert, als Psychologe, die Informationen dokumentierte und vor Gericht verwendete, was das Vertrauen der Angeklagten in seine Aussagen belastete.

Psychopathologie der Täter

Im Verlauf seiner Untersuchungen führte Gilbert eine Reihe von psychologischen Tests durch. Diese Tests ergaben, dass die meisten Angeklagten überdurchschnittliche Intelligenzwerte aufwiesen, was dem gängigen Bild, dass diese Verbrecher geistig beschränkt seien, stark widersprach. Historiker betonen, dass diese Ergebnisse erstaunten und die Diskussion über die Täter komplexer machten.

Gilberts Tests, einschließlich von Rorschach-Tests, ermöglichten es ihm, Hinweise auf tiefere Persönlichkeitsstörungen bei vielen der Angeklagten zu identifizieren. Obwohl die Ergebnisse auf eine dunkle Psychopathologie hindeuteten, war die Interpretation jener Tests subjektiv. Die spannendste Phase für Gilbert war der Prozess selbst, als die Angeklagten mit Beweisen konfrontiert wurden. Historiker beschreiben Gilbert als einen Verfechter der Auffassung, dass die Angeklagten keine geisteskranken Individuen waren, sondern vielmehr in einem von der nationalsozialistischen Ideologie geschaffenen dunklen Psychosozialraum operierten.

Fazit: Ein faszinierendes Erbe

Nach dem Nürnberger Prozess kehrte Gustave M. Gilbert in die USA zurück und veröffentlichte seine Aufzeichnungen in „Nürnberger Tagebuch“. Seine Beschäftigung mit der Psyche der NS-Täter setzte sich fort, und er meldete sich auch während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem zu Wort. Gilbert blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1977 ein gefragter Experte für die Psychologie von Diktatoren und totalitären Regierungen und hinterließ ein signifikantes Erbe in der Psychologie.